Germany - Das virtuelle Stromnetz für Elektrofahrzeuge – ein Gamechanger?
Die Bundesnetzagentur hat mit Beschluss vom 21. Dezember 2020 (BK6-20-160) ihr „Festlegungsverfahren zur Weiterentwicklung der Netzzugangsbedingungen Strom“ abgeschlossen. Neben zahlreichen Änderungen technischer Natur – wie der Einführung eines elektronischen Preisblatts für die Netznutzungsabrechnung oder der Anpassung bestimmter Marktprozesse an die Vorgaben des Messstellenbetriebsgesetzes – enthält der Beschluss eine kleine Revolution: Im letzten Punkt des Beschlusses legt die Bundesnetzagentur den Grundstein für rein virtuelle Stromnetze im Bereich der Elektromobilität. Damit können E-Mobilisten in Zukunft ihren Lieferanten am Ladepunkt frei wählen – wenn der Betreiber des Ladepunkts dies zulässt.
Hintergrund
Das Laden von Elektrofahrzeugen stellt eine besondere Herausforderung gegenüber der regulären Stromversorgung dar. Während reguläre Stromkunden ortsfest sind und ihren Strom über einen einzigen Netzanschluss beziehen, sind E-Fahrzeuge ständig in Bewegung. Ein E-Mobilist kann über den Tag verteilt an verschiedenen Ladepunkten laden, z. B. im Büro, an einem öffentlichen Ladepunkt oder auf einem öffentlichen Parkplatz. Dabei nutzt der E-Mobilist den Netzanschluss des jeweiligen Anschlussnutzers (z. B. des Arbeitgebers, des Ladepunkt- oder Parkplatzbetreibers).
Bislang mussten E-Mobilisten denjenigen Strom laden, den der Stromlieferant des jeweiligen Anschlussnutzers liefert. Der E-Mobilist konnte keinen eigenen Lieferanten mitbringen, da der Stromliefervertrag – vereinfacht gesprochen – an den Netzanschluss gekoppelt ist (Tatsächlich ist der Stromliefervertrag an den digitalen Zwilling des Netzanschlusses – „Marktlokation“ genannt – gekoppelt, was jedoch hier nicht vertieft werden soll). Ein Wechsel des Lieferanten dauert nach den aktuellen Marktprozessen bis zu drei Wochen. Daher hatten E-Mobilisten bisher selbst dann nicht die Möglichkeit, ihren eigenen Lieferanten an den Ladepunkt mitzubringen, wenn der jeweilige Anschlussnutzer dies zugelassen hätte. Das Laden an einem Ladepunkt ist bislang ein Produktbündel aus Infrastrukturnutzung und dem Strom des vom Ladepunktbetreiber (Charge Point Operator – "CPO") gewählten Stromlieferanten. Der CPO entscheidet, ob der am Ladepunkt erhältliche Strom aus erneuerbaren Energien stammt. Zudem verlangt er in der Regel einen Aufschlag auf den Strompreis seines Stromlieferanten. Im Jahr 2020 kam es zu teilweise drastischen Preiserhöhungen für das öffentliche Schnellladen, was das Bundeskartellamt zur Einleitung einer Sektoruntersuchung veranlasste.
Was ist geschehen?
Mit ihrem Beschluss vom 21. Dezember 2020 hat die Bundesnetzagentur nun „Netzzugangsregeln zur Ermöglichung einer ladevorgangscharfen bilanziellen Energiemengenzuordnung für Elektromobilität (NZR-EMob)“ erlassen. Diese eröffnen CPOs ein neues Geschäftsmodell. Anstatt wie bislang die Bereitstellung der Ladeinfrastruktur und die geladene Energie als Bündel anzubieten, haben CPOs ab dem 1. Juni 2021 die Möglichkeit, sich auf den Betrieb der Ladeinfrastruktur zu beschränken. Als reine Infrastrukturanbieter können CPOs Lieferanten erlauben, ihre Ladeinfrastruktur zu nutzen, um E-Mobilisten mit Energie zu versorgen. Umgekehrt können E-Mobilisten ihren eigenen Lieferanten zu den Ladepunkten des CPO bringen.
In diesem reinen Infrastrukturmodell wird der Strom am Ladepunkt vom Lieferanten des E-Mobilisten geliefert und abgerechnet. Der CPO erhält für die Bereitstellung der Ladeinfrastruktur eine Gebühr vom Lieferanten. Damit können die heutigen „E-Mobility Provider“ zu echten Stromlieferanten werden. Bislang verkaufen diese lediglich die vom CPO für den Ladepunkt beschaffte Energie an die E-Mobilisten weiter und sorgen für den Zugang zu den Ladepunkten verschiedener CPOs. Das reine Infrastrukturmodell ist vergleichbar mit dem Geschäftsmodell eines Netzbetreibers, wobei ein wesentlicher Unterschied darin besteht, dass Netzbetreiber gezwungen sind, die Netzdienstleistung und die Stromlieferung zu entflechten, während dies für CPOs nur eine Option ist. CPOs steht es auch weiterhin frei, nach dem bisherigen Modell die Ladeinfrastruktur und die Stromlieferung zu bündeln.
Warum ist das eine kleine Revolution?
Obwohl vermutlich nicht viele CPOs sofort zum reinen Infrastrukturmodell wechseln werden, kann die Tatsache, dass es nun existiert, durchaus als eine Revolution betrachtet werden. Um die freie Lieferantenwahl am Ladepunkt zu ermöglichen, hat die Bundesnetzagentur nämlich das Konzept des rein virtuellen Stromnetzes eingeführt. Virtuelle Stromnetze – „Bilanzierungsgebiete“ genannt – existieren bisher ausschließlich als digitale Zwillinge tatsächlicher, physischer Netze. Sie dienen dazu, Einspeisungen und Entnahmen in das und aus dem physischen Netz im Rahmen eines komplizierten Kontensystems – „Bilanzkreissystem“ genannt – bestimmten Lieferbeziehungen und Einspeiseverpflichtungen zuzuordnen. Mit dem NZR-EMob können im Bereich der Elektromobilität nun Lieferanten ein Bilanzierungsgebiet eröffnen und Daten an das Bilanzkreissystem liefern. Damit betreiben sie im Ergebnis ein rein virtuelles Stromnetz, ohne ein physisches Netz zu betreiben (und damit ohne der Regulierung zu unterliegen, denn diese beruht auf den physischen Eigenschaften eines Netzes, die es zu einem natürlichen Monopol machen). Zukünftig könnten rein virtuelle Stromnetze genutzt werden, um viele weitere Verbrauchsgeräte auf Geräteebene in das Bilanzkreissystem zu integrieren – und damit separat belieferbar zu machen.
Die Bundesnetzagentur hat diese Entwicklung mit der Schaffung der oben erwähnten "Marktlokation" begonnen, welche die Lieferbeziehung flächendeckend vom physischen Netzanschluss entkoppelt. Das rein virtuelle Stromnetz ist eine konsequente Weiterentwicklung. Neben den bereits etablierten virtuellen Kraftwerken könnten so in Zukunft verstärkt rein virtuelle Stromnetze entstehen.