EuGH: Keine automatische Unwirksamkeit von Kündigungen bei Versäumnis im Massenentlassungsverfahren

Soll in einem Unternehmen eine größere Anzahl an Mitarbeitenden entlassen werden, so hat der Arbeitgeber einerseits Anzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten (Anzeigeverfahren). Andererseits ist er im Rahmen des sog. Massenentlassungsverfahrens aber auch verpflichtet, den Betriebsrat rechtzeitig über wesentliche Aspekte der geplanten Massenentlassung – beispielsweise über Grund, Anzahl und Zeitraum der Entlassungen – zu unterrichten. Auf dieser Basis haben Arbeitgeber und Betriebsrat darüber zu beraten, wie Entlassungen vermieden oder deren Folgen abgemildert werden können (Konsultationsverfahren). Anzeige- und Konsultationsverfahren sind neben dem in der Regel parallel notwendigen Interessenausgleichsverfahren und den Verhandlungen über einen Sozialplan durchzuführen. Nach § 17 Abs. 3 S. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der an den Betriebsrat im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens übermittelten Informationen zuzuleiten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat – auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Beschl. v. 27.01.2022 – 6 AZR 155/21 (A)) – nun entschieden, dass diese Zuleitungspflicht nicht die individuellen Arbeitnehmer schützt (EuGH, Urt. v. 13.07.2023 – C-143/22). Versäumt der Arbeitgeber die Mitteilung der Abschrift an die Arbeitsagentur, führe dies daher nicht zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen. 

Worum ging es?

Im Jahr 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH eröffnet und beschlossen, die Geschäftstätigkeit einzustellen. Das Unternehmen initiierte das im Fall einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gegenüber dem Betriebsrat. Entgegen der ausdrücklichen Bestimmung in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG wurde allerdings der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der dem Betriebsrat übermittelten Informationen zugeleitet. Der Betriebsrat erklärte in der Folge, dass er keine Möglichkeit zur Vermeidung der beabsichtigten Entlassungen sehe. Das Anzeigeverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit erfolgte im Übrigen ordnungsgemäß.

In der Folge machte ein von der Massenentlassung betroffener Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der ihm gegenüber ausgesprochenen Kündigung geltend. Im Wesentlichen stützte sich der Kläger auf die Argumentation, dass es sich bei der Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG um ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB und damit um eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung handele. Diese habe arbeitnehmerschützenden Charakter und solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit frühestmöglich Kenntnis von den anstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühen darauf ausrichten zu können.

Wie kam es zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH?

In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen ging der sechste Senat des BAG davon aus, dass § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nur dann ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB darstellen könne, wenn die Norm zumindest auch den individuellen Schutz der Arbeitnehmer bezwecke. Nur in diesem Fall könne eine Verletzung der Zuleitungsverpflichtung zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Da § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG aber auf Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (MERL) beruht, hing dies von der unionsrechtlichen Auslegung ab. Das BAG hat das streitige Verfahren daher ausgesetzt und die Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vorgelegt.

Wie entschied der EuGH im vorliegenden Fall?

Der EuGH hat einen individuellen Schutz der einzelnen Arbeitnehmer durch Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL abgelehnt. Zunächst sei zwar von einem neutralen Wortlaut von Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL auszugehen. Allerdings könne die Information des Betriebsrates bereits dann erfolgen, wenn noch nicht sämtliche Einzelheiten der Massenentlassung feststehen. Arbeitgeber und Betriebsrat haben zudem über die Maßnahmen zu beraten. Die Behörde könne sich daher nicht voll und ganz auf die Ihr zu übermittelnde Abschrift verlassen und daher auch keine konkreten Maßnahmen für einzelne Arbeitnehmer vorbereiten. Darüber hinaus komme der Behörde im Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat keine aktive Rolle zu, da sie an dieser Stelle lediglich Adressatin der Information ist. Die in Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde diene daher nach Sinn und Zweck lediglich Informations- und Vorbereitungszwecken. Die Behörde solle sich anhand der Information aus dem Konsultationsverfahren zunächst nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die zu diesem Zeitpunkt regelmäßig lediglich beabsichtigte Massenentlassung allgemein betrachten. Dafür spreche auch die Entstehungsgeschichte der MERL. Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL sei eingefügt worden, weil eine solche Informationsverpflichtung für sinnvoll erachtet wurde, um es den zuständigen Behörden zu ermöglichen, unverzüglich Kenntnis von einer Situation zu erlangen, die möglicherweise entscheidende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. 

Welche Auswirkungen ergeben sich durch die Entscheidung des EuGH?

Das BAG hatte in seinem Vorlagebeschluss bereits angedeutet, dass § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nach seiner Ansicht wohl keinen Individualschutz begründe. Dies wurde auf europarechtlicher Ebene nun erfreulicherweise durch den EuGH bestätigt. Das BAG wird daher in der Folge in unionsrechtskonformer Auslegung davon ausgehen, dass § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG kein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB darstellt. Eine Verletzung der Zuleitungspflicht an die Agentur für Arbeit wirkt sich daher nicht auf die Wirksamkeit einer Kündigung aus. 

Praxishinweis

Die von der Zuleitung der Konsultationsunterlage für den Betriebsrat an die Arbeitsagentur unabhängige und nachgelagerte Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit bleibt weiterhin Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung. Fehler in diesem Stadium des Massenentlassungsverfahrens können weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, weshalb bei der Abfassung der – fehleranfälligen – Massenentlassungsanzeige weiterhin große Sorgfalt erforderlich ist.