Ernstliche rechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen
FG München, Beschluss vom 24.06.2024, 7 V 11/24
Die Antragstellerin ist eine GmbH, der für die Wirtschaftsjahre 2004/05 und 2005/06 eine Investitionszulage gewährt worden ist, welche nach einer Außenprüfung im Jahr 2012 aufgehoben wurde. In der Folge kam es zu einem Einspruchs- und Klageverfahren vor dem FG München, welches im März 2023 mit der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde für die Antragstellerin endgültig erfolglos geblieben war. Während des Verfahrens hatte das Finanzamt die Aussetzung der Vollziehung gewährt.
Im April 2023 setzte das Finanzamt Aussetzungszinsen nach § 237 AO fest. Gegen diese Festsetzung legte die Antragstellerin Einspruch ein. Das Einspruchsverfahren ruht im Hinblick auf das anhängige Revisionsverfahren BFH VIII R 9/23 zur Höhe des Zinssatzes bei Aussetzungszinsen. Die Antragstellerin beantragte ferner die Aussetzung der Vollziehung des Zinsbescheids, was das Finanzamt ablehnte. Ein gegen diese Ablehnung eingelegter Einspruch blieb ohne Erfolg. Daraufhin hat die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids über die Festsetzung der Aussetzungszinsen beim Finanzgericht beantragt. Zur Begründung hat die Antragstellerin auf die (vermeintliche) Verfassungswidrigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen von 6 Prozent p.a. verwiesen.
Das FG München hat diesem Antrag teilweise stattgegeben und die Vollziehung des Zinsbescheids für Verzinsungszeiträume ab 2019 ausgesetzt. Nach Auffassung des Gerichts bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zinsbescheids. Das Gericht zweifelt an der verfassungsrechtlichen Gültigkeit der dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Vorschrift des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO, wonach die Zinshöhe 0,5 Prozent für jeden Monat der Aussetzung beträgt.
Dem steht nach Ansicht des FG München nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Nachzahlungszinsen gem. §§ 233a i.V.m. 238 Abs. 1 S. 1 AO (BVerfG, Beschluss v. 09.07.2021, 1 BvR 2237/14) von der Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf andere Verzinsungstatbestände abgesehen hat. Das FG Baden-Württemberg (Urteil v. 11.05.2023, 1 K 180/22) war demgegenüber der Ansicht, dass das Absehen von der Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf andere Verzinsungstatbestände deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit impliziere.
Das FG München erörtert die Erwägungen des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Höhe der Nachzahlungszinsen gem. §§ 233a i.V.m. 238 Abs. 1 Satz 1 AO (BVerfG, Beschluss v. 09.07.2021, 1 BvR 2237/14). Nach den dort enthaltenen Grundsätzen sei auch die Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 AO von 0,5 Prozent für jeden Monat (6 Prozent p.a.) verfassungswidrig, weil dieser typisierend festgelegte Zinssatz der Höhe nach nicht angemessen sei. Zweck der Verzinsung ausgesetzter Steueransprüche sei die Abschöpfung des mit der Aussetzung verbundenen (Zins-)Vorteils. In Folge des strukturellen Niedrigzinsniveaus bilde der Zinssatz die mit ihm abgegoltenen Nutzungsmöglichkeiten jedoch nicht mehr realitätsgerecht ab, weil der potentiell erzielbare Liquiditätsvorteil mittlerweile deutlich niedriger liege.
Das FG München stellt ferner klar, dass die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, zur Vermeidung der Aussetzungszinsen die streitige Steuerfestsetzung zunächst zu tilgen, verfassungsrechtlich zweifelhaft sei. Damit stellt es sich ausdrücklich gegen eine Entscheidung des FG Münster (Beschluss v. 10.02.2023, 3 V 2464/22), das einen gerichtlichen Aussetzungsantrag in einem vergleichbaren Fall mit diesem Argument abgelehnt hat.
Eine Aussetzung für Verzinsungszeiträume vor dem Jahr 2019 komme jedoch nicht in Betracht, auch wenn die Höhe der Aussetzungszinsen bereits seit dem Jahr 2014 unangemessen sei. So habe das BVerfG den Gesetzgeber in seiner Entscheidung zur Höhe der Nachzahlungszinsen nur zur Neuregelung ab dem 01.01.2019 verpflichtet und für den Verzinsungszeitraum 2014 bis 2018 die Fortgeltung angeordnet. Es sei daher davon auszugehen, dass das BVerfG auch bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen eine entsprechende Fortgeltung jedenfalls bis zum 31.12.2018 anordnen würde.